Kontiki: Moderner Vertriebskanal-Mix im ÖPV und neue Tarifstrategien

Horst Stammler, Vorsitzender Kontiki, erinnerte in seiner Begrüßung an die große Tradition der Stadt Nürnberg in der Entwicklung des Personenverkehrs von der ersten deutschen Eisenbahn (1835 Nürnberg – Fürth) bis zur ersten und derzeit einzigen vollautomatischen U-Bahn.

Andreas Mäder, Geschäftsführer Verkehrsverbund Großraum Nürnberg GmbH (VGN), stellte dar, wie der Verkehrsverbund sein Hauptziel, den motorisierten Individualverkehr durch den Ausbau eines leistungsfähigen regionalen Schienennetzes deutlich zu senken, erreicht hat. Bemerkenswert ist eine Veränderung im Mobilitätsverhalten: ÖPNV ist vielseitiger geworden, Einkauf/Freizeit hat an Wochentagen einen Anteil von 40%, an Wochenenden sogar 88%. Akzeptanzprobleme der neuen Vertriebswege haben sich durch die enorme Verbreitung der neuen Medien erledigt. Ausgebaut werden zukünftig u. a. die elektronische Fahrplanauskunft und die automatische Tarifberechnung. Der VGN ist von der Fläche der zweitgrößte Verkehrsverbund Deutschlands.

Tim Dahlmann-Resing, Vorstand der Verkehrs-Aktiengesellschaft Nürnberg (VAG), machte in seiner Begrüßung die Bedeutung der VAG an den wesentlichen Kennzahlen des Bedienungsgebietes deutlich, u.a. 842.000 Einwohner, 151 Mio. Fahrten im Jahr, 22% Modalsplit und die Steigerung der Aufwandsdeckung auf 76%. Die vollautomatische, fahrerlose U-Bahn fährt in Spitzenzeiten im 100 Sekunden-Takt. Über das Verkehrssystem-Management NürnbergMOBIL erhält der Fahrgast umfassende und verkehrsmittelübergreifende Information und auch Beratung zu touristischen Fragen aus einer Hand und gleichzeitig auf allen Kanälen.

Moderner Vertriebskanal-Mix war das Thema von Klaus Dechamps, VGN,  und Thomas Seyfried, VAG. Sie demonstrierten das Zusammenwirken von PrintTicket, HandyTicket und Chipkarten im Bereich des Verkehrsverbundes Großraum Nürnberg. Die Umsetzung des Stufenmodells der VDV-Kernapplikation ist für Stufe 1 (bargeldloses Zahlen) und Stufe 2 (elektronischer Fahrschein: Print- und HandyTicket) bereits durchgeführt, die Chipkarte ist in Planung. Die Stufe 3 (automatische Fahrpreisberechnung) ist im Konzept vorgesehen. Seit 10 Jahren ist ein Online-Shop mit z.Zt. 58.000 Kunden implementiert, der Abo-Anträge, Ticket-Bestellungen und deren Bezahlung abwickelt. PrintTickets zum Selbstausdruck für Semester-Ticket, Kombi-Ticket und Tagesticket sind seit 2008 im Einsatz. Dies bringt Einsparungen bei Personal- und Materialkosten und die Kontroll-Erfahrungen sind positiv.

HandyTicket Deutschland ist für den VAG-Kunden der persönliche Ticket- und Auskunftsautomat: bequem, mobil, flexibel. Mitte 2013 waren 30.600 Kunden registriert, die Planung geht von einer jährlichen Umsatzverdoppelung aus. Das Smartphone ist für den ÖPNV ein wichtiges verkehrsträgerübergreifendes Medium, aber auch ein Träger- und Bezahlmedium und mobiler Zugang zu Informations- und Buchungsplattformen. Außerdem kann es als Kontrollgerät eingesetzt und als Informationsinstrument bei besonderen verkehrlichen Situationen genutzt werden. Für die regions- und systemübergreifende Interoperabilität erwarten VAG und VGN von dem Projekt IPSI eine vielversprechende technische Weiterentwicklung, zumal bereits jetzt bei HandyTicket Deutschland die Tendenz der interoperablen Nutzer mit derzeit 7% weiter steigt. Zielvision ist die automatische Fahrpreisberechnung mit Raumerfassungssystemen. Die Einführung des (((eTicket Deutschland wird stufenweise unter besonderer Berücksichtigung der Wirtschaftlichkeit und einer verbundübergreifenden Kontrolle durchgeführt.

Prof. Knut Ringat, der Geschäftsführer des Rhein-Main Verkehrsverbundes (RMV) und Vizepräsident des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen, leitete seine Ausführungen zum Vertrieb der Zukunft mit dem Statement ein: Da sich die Menschen und die Rahmenbedingungen ändern, müssen wir immer wieder neue Antworten finden. Das Gesamtsystem ÖPNV steht im Spannungsfeld vielfältiger Entwicklungen: Zunehmende Vernetzung über Branchen hinweg, Mobilitätsnachfrage in Abhängigkeit vom demographischen Wandel, angespannte Finanzsituation der öffentlichen Haushalte, differenzierte Lebensstile und flexiblere Arbeitswelt als Merkmale der Gesellschaft, Entwicklung innovativer IT-Anwendungen, innovative Mobilitätsangebote und neue Partnerschaften. Technologietrends führen zu Verhaltensänderungen in der Gesellschaft. Die Verfügbarkeit von Smartphones hat sich von 2008 bis 2012 mehr als verdoppelt, ebenso das Volumen des elektronischen Vertriebs. Die Vielfalt der Vertriebswege und –systeme im ÖPNV wächst, wir finden die konventionellen und elektronische Vertriebswege und Information- und Vertriebsplattformen Dritter [z. B. waymate, Google, moovel]. Alle Vertriebswege müssen weiterentwickelt werden.

In seiner Zusammenfassung konstatierte Prof. Ringat zum Vertrieb der Zukunft

  1. Konventionelle Vertriebskanäle sind auf absehbare Zeit tragende Säulen
  2. Technischer Fortschritt vergrößert die Vielfalt an Vertriebskanälen und Systemen
  3. Ganzheitliche Betrachtung des Mobilitätsmarktes bedingt Integration neuer Partner
  4. Die Zukunft liegt in der Mandantenfähigkeit und nicht in der Zentralität
  5. Dynamische Entwicklung des Vertriebsmarktes erfordert gemeinsames Handeln der Branche

Fazit: Allein der Markt und der Kunde entscheiden über Erfolg und Misserfolg.

Matthias Wiarda vom Hamburger Verkehrsverbund (HVV) präsentierte den eTicketing-Ansatz im HVV. Ziele der Kundenbindung sind die Stabilisierung der Vertragsbeziehung und eine intensivere Nutzung des Angebotes. Besonderheit ist eine lebenslang gültige Kundenkarte für alle Produkte. Zum weiteren Kundennutzen wird ein umfassender Internetservice und „Single Sign On“ realisiert. Dazu war eine grundlegende Modernisierung des HVV-Vertriebs notwendig. Derzeit gibt es beim HVV drei laufende Projekte: Bartarif, Großkunden-Abo und Semesterticket. Beschlossen ist das Ausrollen des eTicketing in den folgenden Abschnitten: Automaten bis Ende 2014, Busdrucker bis Mitte 2015, Start Abo Ende 2015. HandyTicketing und PrintTicket (Fahrkarten zum Selbstausdruck) werden in den Online Shop integriert. Switchh ist eine App zur Nutzung der unterschiedlichen Fahrmöglichkeiten HVV, Car Sharing, Mietwagen und Taxi; eine Ausdehnung auf weitere Anbieter ist geplant. Switchh liefert die besten Verbindungen mit dem HVV oder die beste Kombi-Verbindung, z.B. HVV, car2go, Taxi. Bei der elektronischen Fahrausweisprüfung wird die Prüfdauer noch optimiert. Die Nutzung von Vertriebsplattformen Dritter bietet Chancen durch die Erweiterung des Produktspektrums und die Interoperabilität, aber auch Risiken, z.B. Imageschaden bei schlechter Service-Qualität der Partner.

Über Erfahrungen der Münchner Verkehrsgesellschaft (MVG) bei der Vorbereitung zur Einführung eines Handy- und Online-Tickets berichtete Volker Krebs. Die MVG hatte in der Vergangenheit eine ganze Reihe von Gründen zur Zurückhaltung, u.a. weil elektronische Vertriebswege zunächst zusätzlichen Aufwand bedeuten. Die Marktdurchdringung von Handy- und Online-Tickets war bis 2012 nicht überzeugend, erst mit den Smartphones kam eine klare und längerfristig anhaltende Entwicklung. Die Massentauglichkeit in der Kontrolle von eTickets war für Münchner Bedingungen unzureichend. Die MVG hat die Smartphone-Strategie des VDV und IPSI näher untersucht. Ergebnis: Smartphones bieten Vielfalt, Innovation ist ohne Fördermittel verfügbar, die neuen Vertriebswege führen langfristig zu niedrigeren Vertriebskosten und/oder höheren Einnahmen. Und es besteht die Chance, mittelfristig eine Reisekette preislich abzubilden. Die MVG betrachtet ein Projekt unter den Gesichtspunkten Medium, Usability, Kontrolle, Flexibilität, Kosten und MVG/SWM Qualität. Das heißt im Einzelnen, eTickets müssen in kurzer Zeit einen hohen Marktanteil erreichen, ohne Lücke im Kontrollsystem. 2011 startete ein Online-Kundenportal und die Entwicklung der Fahrgastinformation und -navigation als Basis für den Onlinevertrieb. Am 15.12.2013 werden die Kontrollinfrastruktur [MDE und EKS], der MVG Webshop mit PrintTickets und Fahrinfo mit HandyTicket in Betrieb gehen. 2014 erfolgt die Erweiterung des Produktportfolios, 2015 folgen Zeitkarten nach gemeinsamer KOSE-Anbindung der Verbundpartner. Offene Fragen sind: Wann kommt die NFC-Technologie wirklich? Wie schnell akzeptiert der Markt neue Bezahlverfahren?

Sjef Janssen, VDV Kernapplikations GmbH und Co. KG, präsentierte die (((eTicket Deutschland News. Das Produktspektrum der VDV-KA ist neu gestaltet worden. „Full eTicket“ umfasst alle Dienstleistungen der VDV-KA für Test und Wirkbetrieb, „eTicket Ready“ stellt die Dienstleistungen rund um das Sicherheitsmanagement bereit, „eTicket Barcode“ wendet sich an Verkehrsunternehmen und Verkehrsverbünde, die nur Dienstleistungen rund um den Barcode benötigen, „Herstellerpaket“ steht für Unternehmen bereit, die Komponenten nach VDV-KA Standard produzieren. Die Verbreitung von (((eTicket Deutschland ist im 3. Quartal 2013 auf 240 Teilnehmer gestiegen. Die IPSI-Plattform vernetzt Kunden, Apps und Verkehrsunternehmen und Verkehrsverbünde. IPSI wird plangerecht Anfang 2015 in den Produktivbetrieb gehen. Die „Grundlagen elektronischer Tarife“ der VDV-Arbeitsgruppe eTarif ist zur Veröffentlichung freigegeben. Gegründet wurde die Smart Ticketing Alliance, eine Plattform für europäische und globale Kooperation, von AFIMB, CNA, ITSO, VDV-KA KG und UITP. Eines der Hauptziele sind Kooperationen im Hinblick auf grenzüberschreitende Interoperabilität.

Dr. Torsten. Gründel, Fraunhofer-Institut Verkehrs- und Infrastruktursysteme, stellte unter dem Titel „Produkt- und Kontrollmodule im ÖPNV“ die Arbeitsergebnisse des VDV-KA-Projekts PKM vor. Als grundsätzliche Mängel sind in der ÖPNV-Landschaft festzustellen, dass die Beschreibung der Tarife nicht einheitlich ist, die Implementierung proprietär ist, die Vorgaben zur Implementierung oft unvollständig sind, tarifliche Änderungen oft Anpassungen an Gerätesoftware erfordern. Das hat zur Folge, dass kurzfristige, flexible Tarifangebote und -änderungen nicht effizient umsetzbar sind. Diese Feststellungen gelten auch für die elektronische Kontrolle. Die Grundidee des Projekts KA-PKM ist die Schaffung eines Systems aus Produktmodul mit Vertriebsdaten, Kontrollmodul mit Kontrolldaten inkl. Tariflogik und Regeln für die Abläufe. Aus der Zielsetzung: datengesteuerte Konfiguration von Vertriebs- und Kontrollkomponenten, tarifneutrale, langlebige Gerätesoftware, prüfbare Verantwortlichkeiten, Verteilung der Daten für Vertrieb und Kontrolle über das ION und Erhöhung der Wirtschaftlichkeit ergeben sich die PKM-Spezifikationen zur Standardisierung im Rahmen der VDV-Kernapplikation. Für den Output aus dem Produkt- bzw. Kontrollmodul sind die festen Datenelemente und die flexiblen Datenstrukturen gemäß VDV-KA zu definieren, ebenso die flexiblen Textelemente, und Datenstrukturen für Hintergrundsysteme. Dr. Gründel machte deutlich, wie wichtig die Gliederung in standardisierte und anwendungsspezifische Funktionen ist. Die aktuellen Planungen beinhalten die Veröffentlichung der Spezifikationsdokumente mit CR und Aufnahme in die VDV-Kernapplikation Mitte nächsten Jahres.

Mit seinem Beitrag EFM3 im Verkehrsverbund Rhein-Ruhr, smartVIA 3.0 „Einchecken und Losfahren!“ beschrieb Nils Conrad, KCEFM, die laufende Machbarkeitsstudie, die Vision und die Ziele: Abbau von Zugangshemmnissen, Neukundengewinnung, erhöhte Tarifergiebigkeit, Unterstützung der Einnahmeaufteilung, Vertriebsoptimierung, gekoppelt mit der Zusatzforderung, dass die Machbarkeit mit existierender funktionierender Technologie nachgewiesen wird. Conrad stellte die 13 Arbeitspakete der Studie und ihren Zusammenhang dar und beschrieb einen Katalog von projektbegleitenden Maßnahmen. Besonders wichtig ist eine EFM3-Simulation zur Feststellung der Auswirkungen von EKS, CICO, CIBO, BIBO und eine Technologiestudie zu Lösungen EFM3. Conrad betonte die Wichtigkeit der Kommunikation und Partizipation aller Beteiligten. Der vorgestellte Zeitplan dokumentiert Prüfphase, Lastenheft/Ausschreibung, Bau, Inbetriebnahme und Betrieb des EFM3-Piloten, parallel dazu laufende Einarbeitung der Erkenntnisse und Umsetzungsentscheidungen. Parallel laufen zwei Großprojekte Online-Vertrieb eTicket und HandyTicket Deutschland 2.0 mit dem gleichen Wirkbetriebsstart Ende 2019.

In der Podiumsdiskussion waren Prüfung und Kontrolle zur Einnahmensicherung ein wesentliches Thema.

Im Abschluss-Plenum berichtete Ralf Nachbar, Stellv. Vorsitzender Kontiki, über die Diskussionen in den Foren. Die Gewinnerarbeiten des ))Kontiki eTicket-Preises)) zu den Themen BIBO und Tarif wurden in Forum 1 vorgestellt. Die Multiapplikation, Forum 2,  wird sehr unterschiedlich umgesetzt, es gibt noch keine Struktur und kein Vorgehensmodell. Die Vision eines Komplettanbieters nicht-administrativer öffentlicher Dienstleistungen verlangt von den derzeitigen Anbietern über den Tellerrand ihres eigenen Verantwortungsbereiches zu schauen und nach Synergien mit anderen Geschäftsbereichen und Anbietern zu suchen. Die Realisierung einer solchen Vision setzt ein anderes Managementverständnis und -verhalten bei den Verantwortlichen voraus. Entwickeln sich die Verkehrsunternehmen zum Mobilitätsdienstleister oder übertragen sie Teile ihres Geschäftes auf andere. Entweder treffen sie die Entscheidung selbst oder sie wird von anderen getroffen.

Die Automatisierte Fahrpreisfindung -EFM3- wurde in vielen Facetten im Forum 3 beleuchtet. Das Tarifkalkulationstool des VRR und die unterschiedlichen Erwartungen an ein derartiges Tool wurden deutlich. Die Grundlagen sind gelegt, weitere Entwicklungsschritte werden auf folgenden Kontiki-Konferenzen vorgestellt.

Horst Stammler, Vorsitzender Kontiki, schloss die 48. Kontiki-Konferenz in Nürnberg mit dem Hinweis, dass die beiden Tage eine gute Mischung aus Information, Diskussion, Ermunterung und Aufbruch geboten haben, aber auch die Mahnung, dass noch Hausaufgaben zu erledigen sind.

www.kontiki.net

 Liste der Abkürzungen

IPSI                  Interoperables Produkt-Service-Interface    
Single Sign On   Einmal-Anmeldung
MDE                  Mobile Daten-Erfassung
EKS                   Elektronisches Kontroll-System
KOSE                 Interoperables Sperrmanagement (Kontroll-Service)
NFC                   Near Field Communication
AFIMB                Agence française pour l’information multimodale et la billettique
CAN                   Calypso Networks Association
UITP                  International Association of Public Transport
PKM                   Produkt- und Kontroll-Modul
ION                    Interoperables Hintergrundnetz
CR                     Change Request
KCEFM               Kompetenzcenter Elektronisches Fahrgeldmanagement
CICO                  check-in/check-out
CIBO                  check-in/be-out
BIBO                  be-in/be-out

 

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